Das Albdorf Gruorn

Auch wenn das Dorf Gruorn heute nicht mehr als Gemeinde existiert, blickt es doch auf eine bewegte und lange Vergangenheit zurück. Während die Schwäbische Alb hauptsächlich aus wasserdurchlässigem Juragestein besteht, liegt Gruorn auf wasserhaltendem Basalttuff. Diese geologische Besonderheit sicherte die Versorgung mit Wasser und machte den Ort für Siedlungen attraktiv. Archäologische Funde weisen bereits auf eine Besiedlung der Gemarkung in der Jungsteinzeit und Bronzezeit hin. Auch wenn die erste verifizierte urkundliche Erwähnung des Ortes erst im Jahr 1254 erfolgte, wird allgemein davon ausgegangen, dass die Ortschaft wesentlich älter ist. 

In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges verlor Gruorn mehr als 500 Einwohner. Am Ende des Krieges lebten gerade noch 80 Menschen in den Ruinen des Dorfes. Durch den Zuzug von Flüchtlingen aus Tirol, dem Salzburger Land und der Schweiz erholte sich die Einwohnerzahl auf ihr altes Niveau. 

In dem überwiegend bäuerlichen Dorf, abseits von Bahnlinien und großen Industrieorten, waren die meisten Bewohner von jeher in der Landwirtschaft tätig. Trotz der Lage auf der rauen Alb ernährte der Boden die Gruorner Bevölkerung ausreichend. Neben der Landwirtschaft betrieben zahlreiche Dorfbewohner noch handwerkliche oder gewerbliche Betriebe. 

Mitte der 1930er Jahre wurde bekannt, dass der 1895 eingerichtete Truppenübungsplatz durch die Entwicklung der Waffen zu klein wurde und eine Erweiterung notwendig war. Da Gruorn direkt an das Übungsgelände angrenzte, kamen schnell Gerüchte auf, dass das Dorf eventuell einen Teil seiner Gemarkung abtreten müsse. Die erschreckende Gewissheit kam am 15. Februar 1937: Das Dorf musste im Zeitraum von zwei Jahren komplett geräumt werden. Eingaben und Gesuche der Bewohner und Lokalpolitiker zeigten keine Wirkung. Das Ende des Dorfes war beschlossen. 

Um den Anschein der Hilfe und Unterstützung entstehen zu lassen, wurden den Gruornern durch die Reichsumsiedlungsgesellschaft ca. 600 gewerbliche und landwirtschaftliche Betriebe in ganz Süddeutschland angeboten. Auch Bürgermeister aus verschiedenen Städten und Gemeinden bemühten sich um die Gruorner. Schweren Herzens und ohne andere Wahl verließen die 665 Bewohner bis 1939 ihr Dorf.

Nach der Räumung des Dorfes und der Vergrößerung des Truppenübungsplatzes wurden die Häuser in den militärischen Übungsbetrieb einbezogen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs flammte noch einmal Hoffnung auf. Die noch intakten Häuser wurden zur Unterbringung von Heimatvertriebenen genutzt. Einige Gruorner Familien kehrten daraufhin zurück in ihre alte Heimat. Doch schon in den beginnenden 1950er Jahren kam das endgültige Aus für Gruorn. Die Gebäude, in denen zuvor noch Generationen Gruorner aufgewachsen waren, wurden durch Manöver in Mitleidenschaft gezogen. Die Häuser verfielen zu Ruinen und mussten Ende der 1970er Jahre aus Sicherheitsgründen gesprengt werden. Nur das Schulhaus wurde für militärische Zwecke erhalten. Das heutige Wahrzeichen des ehemaligen Dorfes, die Stephanuskirche, war ebenfalls dem Zerfall preisgegeben.

Die Stephanuskirche in Gruorn

„Du bist so alt wie die Gruorner Kapell!“ Diese Redensart war Ende des 18. Jahrhunderts in der Region sehr verbreitet und gibt einen ersten Hinweis darauf, dass die Stephanuskirche in Gruorn mehr ist als ein kleines Kirchlein ohne Gemeinde. 

Der spätgotische Chor der Kirche stammt aus dem Jahr 1522. Er wurde von einem Meister aus der Schule des großen Kirchenbauers Peter von Koblenz geschaffen. Allerdings lässt sich aus der Bausubstanz des Kirchenschiffes ableiten, dass die Kirche bereits Ende des
11. Jahrhunderts gebaut wurde. Das Fresko an der Südwand des Kirchenschiffs wird sicher auf das Jahr 1380 datiert. Es zeigt das Jüngste Gericht aus der Offenbarung des Johannes. Die älteste Glocke der Kirche stammte aus dem Jahre 1486, der Taufstein trägt die Jahreszahl 1506. 

Mit der Reformation begann ab 1535 eine neue Zeit für die Kirche in Gruorn. Auf obersten Befehl hin sollten im Herzogtum Württemberg ab 1540 alle sichtbaren Hinweise auf den Katholizismus entfernt werden. In dieser Zeit wurde das Fresko übertüncht und so für Jahrhunderte konserviert. 

Durch Baumaßnahmen wurde der Charakter der Kirche immer wieder verändert. Die letzte deutliche Veränderung war der Einbau der vier großen Fenster im Kirchenschiff zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dadurch wurde ein Drittel des übertünchten Freskos zerstört.

Mit dem Erlass zur Auflösung des Dorfes 1937 war auch das Schicksal der Kirche besiegelt. Die Stephanuskirche, über viele Jahrhunderte Mittelpunkt der Gemeinde, wurde dem Zerfall und der Zerstörung preisgegeben. 

Der Wiederaufbau der Stephanuskirche

Mit der Gründung des Komitees zur Erhaltung der Kirche in Gruorn drückten die ehemaligen Bewohner ihre Sorge, zugleich auch ihr Ziel, aus. Das 1967 erschienene Buch „Gruorn – Ein Dorf und sein Ende“ sorgte dafür, dass das Interesse am Ort und seinem Schicksal in der Bevölkerung sogar noch anwuchs. Beim Pfingsttreffen 1968 beschlossen die Anwesenden, dass „das Dorf Gruorn nicht völlig vom Erdboden verschwinden dürfe, wenigstens ein Denkmal sollte die Nachfahren an die einst blühende Albgemeinde erinnern“. Zu diesem Zeitpunkt war die Kirche in einem leidlichen Zustand. Der Turm war einsturzgefährdet, das Dach des Kirchenschiffs bereits eingefallen, der Friedhof überwuchert, die Grabsteine waren zum Teil umgestürzt. Sämtliche Kunstgegenstände und die Orgel der Kirche waren schon kurz nach der Räumung des Dorfes aus der Kirche entfernt und in anderen Kirchen untergebracht worden. Das Fresko verblieb an seinem Platz und litt unter dem zunehmenden Zerfall. Erst 1958 wurde es mit großem Aufwand gerettet und ins Heimatmuseum Münsingen gebracht.

Sowohl Historiker und Denkmalschützer als auch hohe Militärs des Münsinger Truppenübungsplatzes unterstützten die Gruorner bei ihrem Bemühen, die Kirche wiederaufzubauen. Wenn auch die Kirche mit der Auflösung der Kirchengemeinde 1939 entwidmet worden war, so war sie trotzdem ein wichtiges Kulturgut und sollte als ein solches weiterbestehen. 

Eine große Hürde war die Finanzierung des Vorhabens. Zwar waren alle Beteiligten für einen Wiederaufbau und hatten auch Interesse daran, die Kirche zu nutzen. Eine Bereitstellung monetärer Mittel war jedoch erstmal nicht vorgesehen. Am Ende einigten sich das Komitee und der Landkreis darauf, dass jede Partei jeweils die Hälfte der geschätzten 40.000 DM für die dringendsten Renovierungsarbeiten aufbringen würde. Mit Hilfe verschiedenster ziviler, kirchlicher und militärischer Institutionen und der finanziellen Unterstützung vieler Privatpersonen konnte das Komitee zur Erhaltung der Kirche in Gruorn e. V. insgesamt 35.000 DM zusammenbringen.

Die Renovierungsarbeiten konnten beginnen. Viele Aufgaben erbrachten die Gruorner in Eigenleistung oder unter Anleitung von Handwerkern der Region. Von dieser Leistung beeindruckt, gab der damalige Landeskonservator 1972 einem Restaurator aus Tübingen den Auftrag, den spätgotischen Chor der Kirche zu restaurieren. Diese Arbeiten ließen nicht nur das Netzgewölbe des Chors mit seinen Schlusssteinen in neuem Glanz erscheinen, auch wurden weitere Wandbilder im Chor freigelegt und erneuert. Der Friedhof wurde in dieser Zeit instandgesetzt und wird seitdem durch das Komitee, aber auch durch die Nachkommen, gepflegt. Zum Pfingsttreffen 1973 konnten sich nun alle von den Leistungen der Gruorner und ihrer Partner überzeugen. Natürlich musste das Komitee in den folgenden Jahren immer wieder Hand an seine Kirche legen, um das teilweise tausend Jahre alte Gebäude auch weiter zu erhalten.

In den folgenden Jahrzehnten diente die Kirche als Ort der Stille. Sowohl die ehemaligen Dorfbewohner und ihre Freunde als auch das Militär nutzten die Kirche für Gottesdienste und Andachten.

Auflösung des Truppenübungsplatzes
und Neubeginn

Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde die Idee geboren, die Fenster der Stephanuskirche farblich zu gestalten. Die Darstellungen sollten einerseits der biblischen Botschaft und der Atmosphäre des Kirchenraums gerecht werden, andererseits eine Verbindung zur Geschichte des Orts und seinen ehemaligen Bewohnern herstellen. So wurden im Jahr 2004 zunächst drei Fenster im Chorraum realisiert. Zeitgleich zeichnete es sich immer mehr ab, dass der Truppenübungsplatz aufgelöst werden wird. Dies war dann im Jahr 2006 der Fall und ca. 50 Kilometer Wege wurden für Radfahrer und Fußgänger freigegeben. Gruorn ist seitdem wieder für jeden zugänglich und wurde als Teil des Biosphärengebiets Schwäbische Alb zu einem wichtigen Ausflugsziel.

Auf Grund der positiven Reaktion und großzügiger Spenden von Gruornern und Freunden konnten die restlichen Fenster ebenfalls neugestaltet werden. Seit der Vollendung des letzten Fensters im Jahr 2012 leuchten diese farbig und haben so die Atmosphäre des Kirchenraums nochmals neu geprägt. 

Im Rahmen der Innengestaltung verzichteten die Gruorner darauf, die ursprünglichen sakralen Kunstgegenstände zurückzufordern. Schließlich wussten sie, was es bedeutet, Liebgewonnenes zu verlieren. Vielmehr nutzen sie Repliken und wurden durch Sachspenden von anderen Kirchengemeinden unterstützt. Einen besonderen Höhepunkt bildete die Rückkehr des Freskos an seinen ursprünglichen Platz im Jahr 2008. 

Zwischen Ostern und Allerheiligen ist in Gruorn Saison.
An Sonn- und Feiertagen finden jeweils öffentliche Geschichts- und Kirchenführungen statt. Darüber hinaus können bei der Touristik Information Münsingen Gruppenführungen gebucht werden. Zusätzlich bieten Rundweg, verschiedene Tafeln sowie Broschüren und das Museum Interessierten die Möglichkeit, Gruorn und seine Geschichte selbstständig zu erkunden.

Ausführliche Informationen zu der Geschichte des Ortes, der Räumung und dem Wiederaufbau der Kirche finden Sie in den folgenden Werken:

Bischoff-Luithlen, Angelika (Hrsg.): Gruorn – Ein Dorf und sein Ende
(mehrere Auflagen zwischen 1967 und 2006)

Komitee zur Erhaltung der Kirche in Gruorn e. V. (Hrsg.):
Gruorn lebt weiter; 2013. (Neuauflage und Ergänzung
der Broschüre Unvergessenes Gruorn).*


Komitee zur Erhaltung der Kirche in Gruorn e. V. (Hrsg):
Die Kirchenfenster der Stephanuskirche in Gruorn; 2013.*

*Kann direkt in Gruorn erworben werden.

Außerdem sind vor Ort verschiedene Postkarten, ein Leporello, Broschüren sowie ein Ortsplan von Gruorn erhältlich.